Trendwende in der Automobilwirtschaft – IT als neue Königsdisziplin

“Das Automobil der Zukunft wird vernetzt sein – mit dem Umfeld, mit der Verkehrsinfrastruktur und mit der Welt des Internets.“

Rupert Stadler, Vorstandsvorsitzender der Audi AG

Die Automobilwirtschaft stellt eine Schlüsselindustrie für den Wirtschaftsstandort Deutschland dar. Mit etwa 2,2 Millionen Beschäftigten und einem jährlichen Gesamtumsatz von insgesamt ca. 426,2 Milliarden Euro ist sie eine tragende Säule für unsere volkswirtschaftliche Wertschöpfung.

Entsprechend sind technologische Entwicklungen und grundlegende Veränderungen im Automobilsektor für wichtige Teile der Gesamtwirtschaft von tragender Bedeutung. Diese tangieren nicht nur bekannte Fahrzeug- und Motorenhersteller, sondern stellen auch zahlreiche Zulieferer, Handelsunternehmen, Aftersales-Betriebe, Forschungseinrichtungen sowie Finanzdienstleister vor Herausforderungen. Die für den deutschen Standort charakteristische Verflechtung der einzelnen Akteure in der Automobilbranche ist nämlich international einzigartig: Jedes noch so kleine „Beben“, das langfristig spürbare Veränderungen in der Nachfrage und dem Absatz von Automobilen im Gesamtmarkt auslöst, führt zu gravierenden Rückkopplungseffekten in den vor- und nachgelagerten Industriezweigen.

„Automobile made in Germany“ – Technologie- und Innovationskraft als Alleinstellungsmerkmal

Die internationale Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit deutscher Automobile war immer ein besonderes Alleinstellungsmerkmal: Im Jahr 2019 betrug der Anteil des Auslandsumsatzes am Gesamtumsatz der Branche rund 65 Prozent. Mit etwa 282,7 Milliarden Euro Exportvolumina gehörten somit Automarken „made in Germany“ zu den Exportschlagern.*

Historisch gesehen war die Technologie- und Innovationsführerschaft viele Jahre ein wichtiger Erfolgsfaktor für deutsche Automobile – aus gutem Grund: die weltweite Innovationsstärke deutscher Automobilhersteller war ein klares Differenzierungsmerkmal und Deutschland galt lange als weltweiter Impulsgeber für Produkt- und Prozessinnovationen.

Eine neue Trendwende im Automobilmarkt zeigt jedoch, dass die jahrzehntelange Vorreiterrolle durch neue Konkurrenz aus dem Ausland ernsthaft gefährdet ist.

Der Wendepunkt – Neue Technologien, Elektromobilität, Klima & Co.

Nach etwa zehn Jahren der Boomphase, die durch steigende Umsatz- und Wachstumszahlen ausgezeichnet war, lässt sich seit 2018 eine Trendwende in der Automobilindustrie erkennen, die sich u.a. durch einen stetigen Rückgang der Produktions- und Umsatzzahlen bemerkbar macht. Verantwortlich dafür werden neben konjunkturellen Schwankungen eine Reihe von technologischen, gesellschaftlichen und ökologischen Veränderungen gemacht, die disruptive Umwälzungen in der Branche auslösen. Brancheninterne Innovationen in den Bereichen Elektromobilität und neue Antriebstechnologien, autonomes Fahren und Connected Car sowie die zunehmende Technologisierung der Wertschöpfung beschleunigen diesen Wandel. Eine Transformationswelle, die zu gravierenden Veränderungen führt, stellt neue Spielregeln im Markt auf. Folgende Themen stehen dabei im Zentrum des Wandels:

  • Elektromobilität: Mit dem Wandel der Antriebstechnologie von Verbrennungsmotoren hin zu Elektroantrieben steht die Automobilbranche vor enormen Herausforderungen. Auch wenn diese Sparte gemessen an den aktuellen Absatzzahlen noch ein Nischendasein genießt und die Bereitstellung einer flächendeckenden Infrastruktur noch zu bewerkstelligen ist, zeigen bereits heute stolze Wachstumszahlen für alternative Antriebstechnologien ein hohes Entwicklungspotential**. Dieser Trend setzt klare Signale, dass die künftige Nachfrage nach alternativen Antriebstechnologien die Produktion und Wertschöpfung in der Automobilindustrie verändern wird. Die Fähigkeit traditioneller Automobilhersteller, die Transformation hin zur Elektromobilität auf globalen Märkten unter Beweis zu stellen, wird die Marktführer der Zukunft bestimmen. Bisher dominieren vor allem Tesla und chinesische Hersteller das Marktsegment.
  • Autonomes Fahren: Die Technologie für selbstfahrende Fahrzeuge oder Transportsysteme, die sich ohne Eingriff des menschlichen Fahrers zielgerichtet fortbewegen, gibt es bereits. Jedoch werden unterschiedliche Stufen definiert, die von intelligenten Fahrassistenzsystemen – also vom automatisierten bzw. assistiertem Fahren bis hin zu vollständig autonomen Fahrzeugen – unterschiedliche Abstufungen beschreiben. Dabei beschränkt sich ihr Einsatz nicht nur auf Pkw – die eigentlichen Treiber beim automatisierten und autonomen Fahren sind nicht die Pkw-Hersteller. Deutlich höheres Interesse an dieser Technologie haben neue Mobilitätsdienstleister, Flottenhalter, Städte und Zustelldienste. Längst gibt es konkrete Konzepte für sogenannte selbstfahrende People & Cargo-Movern. Ob automatisierte Nutzfahrzeuge, intelligente Gabelstapler, autonome Paketzusteller, Smart Logistics oder innovative Landmaschinen, die Einsatzmöglichkeiten sind mannigfaltig. Noch stehen wir am Anfang einer umfangreichen Test- und Findungsphase. Allen Anwendungsfällen ist jedoch gemein, dass eine hochkomplexe Technik und Informationstechnologie zusammenwirken müssen, um Funktionalität, Sicherheit und Fahrkomfort zu gewährleisten. Um einen flächendeckenden Einsatz zu gewährleisten, müssen unterschiedliche Technologien wie beispielsweise in den Bereichen der Sensorik, smarte Steuerung, intelligente Aktuatorik sowie Supercomputer, Künstliche Intelligenz und hocheffiziente Sicherheitssysteme sinnvoll kombiniert werden. Das reibungslose Zusammenspiel von Informationstechnologie, Infrastruktur, rechtliche Rahmenbedingungen, Sicherheit und Ingenieurskunst wird für den erfolgreichen Einsatz unabdingbar sein.
  • Klima und Umwelt: Emissionen haben gravierende Auswirkungen auf das Klima, ca. 23% aller CO2-Emissionen weltweit werden im Verkehr verursacht. Spätestens seit dem Pariser Abkommen werden Autobauer in die Pflicht genommen, mit klimaneutralen und umweltbewussten Technologien ihren Beitrag zur Senkung des Ausstoßes schädlicher Klimagase zu leisten. Diese Zielvorgabe wird mit diversen Anreizsystemen durch die Politik sowie verpflichtenden Gesetzgebungen begleitet, um die Realisierung der Klimaziele zu beschleunigen. Neben der starken Regulierung gilt es zu erwarten, dass ein verändertes Konsumverhalten der Käufer, als auch eine wachsende Konkurrenz durch neue Player die etablierten Autobauer weiter unter Druck setzen wird. Die Umstellung auf eine nachhaltige, klimafreundliche Mobilität bedeutet einen gewaltigen Strukturwandel für die Branche.
  • Connected Car: Das vernetzte Auto gewinnt für die Automobilindustrie zunehmend an Bedeutung und wird in den nächsten Jahren die Rolle von Informationstechnologie für die Automotive Branche in ein völlig neues Licht rücken. Denn in Zukunft müssen innovative Antriebstechnologie, modernes Design, technische Finesse und Emotionalität um Mobilitätsdienstleistungen und Connected Car Services ergänzt werden. Car-IT gewinnt an Bedeutung und wird die Autobauer zunehmend herausfordern, ihre Kompetenzen für IT-Technologien und -lösungen zu erhöhen. Eine nahtlose Verbindung von Automobil, Software Engineering, Informationstechnologie und Mobilitätsdienstleistung wird für viele Autohersteller zukunftsweisend sein.

“ Wir haben mit einem traditionellen Autokonzern vielleicht 10 Prozent gemeinsam. Sie bauen Teile von Zulieferern zusammen und geben sie an Autohändler weiter. Das ist, als würde man Tesla mit einem Schreiner vergleichen”.

Elon Musk, Tesla

Die Rolle der IT

Informationstechnologie, Digitalisierungskompetenzen und IT-Engineering werden in Zukunft für die Automobilindustrie eine wettbewerbsentscheidende Bedeutung gewinnen. Im Umkehrschluss sind Autobauer gefordert, ihre Kompetenzen für IT-Technologien und -lösungen zu erhöhen. Auch im Bereich der internen Prozesse und der Wertschöpfung werden IT-Kompetenzen wie Künstliche Intelligenz, IoT, Industry 4.0 oder Industrial Cloud eine neue Dimension für die technologische und betriebswirtschaftliche Effizienz haben. Sowohl für Automobilhersteller als auch für Zulieferer werden diese Fähigkeiten eine zentrale strategische Rolle für die zukünftigen Geschäftsmodelle in der Branche spielen. 

Die Umsetzungsgeschwindigkeit dieser Transformation wird mindestens genauso wichtig sein, zumal diese Fähigkeiten und Erfahrungen bei vielen Unternehmen in der Branche keine Kernkompetenz darstellen oder schlichtweg fehlen. Ein Paradigmenwechsel wird für die Entstehung innovativer, IT-basierter Geschäftsmodelle und Automobiltechnologien zu erwarten sein.

Neue Kompetenzen aufzubauen ist zeit- und ressourcenintensiv. Im Vergleich zu den neuen Markt-Playern wie Tesla oder aber auch Google, die einen völlig anderen Zugang zu IT und IT-basierten Geschäftsmodellen haben, könnte die fehlende IT-Kompetenz klassischer Autobauer einen wesentlichen Wettbewerbsnachteil darstellen.

Die neue Ära in der Automobilindustrie – Car IT

Führende Automobilbauer sind sich den neuen Herausforderungen durchaus bewusst und reagieren entsprechend, um mit Tech-Giganten wie Google (Waydoo) oder Tesla mitzuhalten. So haben Marktführer, wie der Volkswagen Konzern, bereits reagiert und ihre eigene Car-IT Sparte gegründet. Laut eigenen Angaben hat sich die markenübergreifende Car.Software-Organisation, die seit Juli 2020 am Start ist, einen straffen Fahrplan für die kommenden Jahre gesetzt. Sie umfasst ein eigenes Betriebssystem für  die gesamte Flotte, eine automobile Daten-Cloud und eine neue Elektronikarchitektur. Im Zuge dessen sollen bis Ende 2020 ca. 5.000 IT-Fachkräfte in der neuen Car.Software-Organisation ihre Arbeit aufnehmen.

Eine erfolgreiche Umsetzung dieser Strategie  setzt den Aufbau von anspruchsvollen IT-Kompetenzen, ein Umdenken in der Unternehmenskultur einhergehend mit einem schnellen Time-to-Market voraus. Denn die Welt der klassischen Fahrzeug- und Automobilhersteller ist grundsätzlich anders, was  „Gesetzmäßigkeiten“ der IT-Welt wie Dynamik, Flexibilität und Anpassungsgeschwindigkeit betrifft.

Der Erfolg neuer Automodelle mit modernen Designs und höherer Leistungsfähigkeit wird in Zukunft zusätzlich davon bestimmt werden, welchen Nutzen neue Software und IT-gebundene Dienstleistungspakete bieten.  Grundsätzlich bedarf es einer agilen Denkweise denn die zusätzlichen Komponenten wirken sich auf Lebenszyklen, Innovationsdynamik, User Experience und Unternehmenskultur aus. Die erfolgreiche Symbiose von Ingenieurskunst und IT-Kompetenz ist zudem keine einfache Linientätigkeit und erfordert eine strategische Neuorientierung, die zeit- und ressourcenintensiv ist. Hierfür kurzfristig geeignete Fachkräfte zu finden, die beide Welten verstehen, wird eine weitere zentrale Herausforderung darstellen, die viele Autobauer mit den Realitäten der knappen IT-Ressourcen auf dem Arbeitsmarkt konfrontieren wird.

Summary

Die Automobilbranche befindet sich in einer intensiven Veränderungs- und Transformationsphase. In kaum einer anderen Branche haben die genannten Faktoren in Kombination miteinander einen so starken Einfluss auf die Geschäftsmodelle der einzelnen Akteure. Dabei werden Umwälzungen nicht nur in den direkten Industriezweigen erwartet. Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung als Schlüsselindustrie für die deutsche Volkswirtschaft, erwartet uns in den nächsten Jahren eine große Veränderungswelle in den vor- und nachgelagerten Industriezweigen. Davon betroffen ist auch der Dienstleistungssektor, wie beispielsweise Automotive Banking, der  Handel oder die Forschung und Entwicklung. Die Fähigkeit mit neuen Technologien und IT-Kompetenzen die nächste Ära in der Automobilgeschichte mitzugestalten, wird die Pioniere der Zukunft bestimmen.

Das gesamte Ökosystem rund um die Automobilbranche wird erkennen, dass, nachdem mehr als ein Jahrhundert lang Maschinenbau-Exzellenz gefragt war, die Branche nun ohne IT-Expertise den Strukturwandel nicht überleben wird.

 

Quelle: * Statistisches Bundesamt, **Vgl. Neuzulassungen Juli 2019/ Juni 2020 à plus 143,5% Hybrid, plus 181,7% Elektro, plus 13,8% Erdgas; Vgl. Benzin (minus 20,4%, Diesel -18,6 % Statistisches Bundesamt).

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